Schule
Eine mögliche Antwort auf die Frage „Was eigentlich ist Schule?“ wäre die: „Schule ist der Ort des Lernens“. Die nächste Frage würde dann lauten, was wird dort eigentlich gelernt? Man könnte darauf antworten: „es werden bestimmte Fächer unterrichtet, deren Inhalte gelernt werden sollen“. Nun müsste man weiter fragen: was eigentlich wird in der Schule wirklich gelernt, was wird mit der größten Nachhaltigkeit gelernt? Dazu betrachten wir den Prozess des Lernens. Das was man Lernen nennt, beschränkt sich keineswegs nur auf die Inhalte bestimmter Fächer.
Allen Inhalten gemeinsam ist die Art des Lernens, genauer des gegenseitigen Umganges von Lernendem und Lehrendem. Lehrer wechseln, Fächer wechseln und Inhalte wechseln. Das aber was über Zeit und Raum, das was im ständigen Wechsel das immer Gleiche bleibt, das was immer und immer wieder aufs neue verinnerlicht und verfestigt wird, das was eigentlich in der Schule gelernt wird, das ist genau dieses Sein des Schülers gegenüber dem Lehrer.
Tragende Konstante bei allen Formen des schulischen Lernens ist die systematische Dressur zu einer bestimmten Rolle. Diese Rolle prägt nicht nur die Art des Lernens in der Schule, infolge ihrer Permanenz ist sie auch das, was mit der größten Nachhaltigkeit gelernt wird.
Das Sein als Schüler bestimmt sich im Spannungsfeld von Schüler und Lehrer. Ein Spannungsfeld in dem es primär um Unterordnung, Gehorsam und Eingliederung sowie die Erfüllung von Anforderungen des Lehrers gegenüber dem Schüler geht. Aus dem vom Lehrer eingeforderten Verhalten resultiert neben Leistungen auch die Entwicklung von Einstellungen des Schülers zu sich und dem System. Die Art wie Schule funktioniert prägt Welt- und Menschenbild des Schülers.
Der Lehrer tritt dem Schüler allerdings nicht nur als Vermittler des Stoffes und als Einforderer von Leistungen gegenüber. Wenn der Lehrer den Schüler bewertet, so repräsentiert und vermittelt er auch das System der Gesellschaft, die von diesem festgelegten Kriterien der Bewertung und somit das Urteil über die Tauglichkeit des Schülers für das System.
Infolge der ständigen Wiederkehr dieser Lernprozesse lernt der Schüler seine Rolle durch eigenes Selbstverständnis und Wertvorstellungen anzufüllen.
Schule verkörpert mittlerweile aber auch eine bis ins Letzte ausdifferenzierte, hochkomplexe, vorgeformte eigene Struktur. Eine normierende Struktur, die um den Schüler herum aufgebaut wurde und in die sich der Schüler einzufügen hat. Der scheinbaren Offenheit des Lernens steht eine sehr geschlossene Struktur der Art des Lernens gegenüber.
Die Rolle der Beteiligten im Spannungsfeld Schule ist durch deren Stellung in einer Hierarchie geprägt. Der Schüler steht in einer untergeordneten Rolle dem Lehrer gegenüber. Der Lehrer steht dem Schüler in einer übergeordneten Rolle gegenüber. Der Lehrer bezieht seine übergeordnete Rolle daraus, dass er das System repräsentiert.
Dabei erfährt und lernt der Schüler: das System ist allmächtig, das System hat immer Recht. Damit wird auch die Beziehung seiner Rolle zum System klargestellt. Schule ist der zentrale Ort der Domestikation des Menschen, der wesentliche Ort der Systemintegration des Einzelnen. Schule vermittelt das Leben als Rollenträger in einem hochkomplexen, kollektiven, arbeitsteiligen, anonymen System.
Jeder Generation wird zuerst ihr Dasein als Rollenträger vermittelt, auf dass sie der nachfolgenden Generation dasselbe vermittelt. Die vorausgehende Generation der Lehrer zwingt die nachfolgende Generation der Schüler in eben das System, in das sie vorher selbst gezwungen wurde.
Die Ohnmacht des Lehrers gegenüber dem System, kann der Lehrer durch seine Allmacht gegenüber dem Schüler kompensieren. Der Lehrer findet in der Unterdrückung des Schülers die Kompensation zu seiner eigenen Unterdrückung durch das System.
Der Lehrer lehrt dem Schüler nicht mehr den Weg zu Wahrheit und Freiheit sondern den Weg zur Systemkompatibilität. Das gesamte System der Schule ist somit nicht auf Bildung, Selbstverwirklichung, Emanzipation und Freiheit sondern auf Integration ausgerichtet. So wie Bildung etwas mit Autonomie der Urteilskraft der einzelnen Person zu tun hat, so ist moderne Schule das genaue Gegenteil von Bildung. Und wenn Kreativität der Atmen der Freiheit ist, so ersticken die starren Strukturen der Schule jede Freiheit.
Ein anonymes System
Das System hat sich an die Stelle Gottes gesetzt, aber im Gegensatz zu Gott ist das System eine anonyme Struktur. Das System kennt nur Regeln, es kennt keine Liebe.
Zentrale Forderung des Systems ist die Einhaltung der Systemregeln. Regeln beschreiben eine bestimmte Form der Beziehung nach außen, das bedeutet aber auch eine bestimmte Form der Beziehung nach innen, zu sich selber und dem eigenen Verhalten.
Der Lehrer ist zwar ein Mensch, repräsentiert als Lehrer aber das System und nicht mehr sich selber. Als Systemrepräsentant stellt der Lehrer Anforderungen gegenüber dem Schüler. Anforderung, die den Schüler dazu nötigen überhaupt erst aktiv zu werden und dann auch noch ein bestimmtes Verhalten zu zeigen. Die Systemanforderungen beziehen sich explizit auf das Verhalten des Schülers und die daraus resultierenden Ergebnisse, die man Leistungen nennt. Implizit beziehen sich diese Forderungen aber auch auf die inneren Einstellungen des Schülers gegenüber sich selber, dem eigenen Tun und den Rest der Welt.
Das System präsentiert sich alternativlos. Der Schüler lernt seine Ausgeliefertheit, seine Ohnmacht gegenüber dem allgegenwärtigen System. Er kann das System weder ändern, noch kann er sich dem System entziehen. Der Schüler lernt seine Unfreiheit gegenüber dem anonymen System. Weil er nicht gegen das System sein kann, lernt er es für das System zu sein. Das System ist anonym, also fordert es auch vom Schüler losgelöst von sich selber, eben so wie der Lehrer, zu funktionieren.
Das System belohnt den Glauben an das System nicht mehr mit himmlischen Versprechungen sondern mit irdischen Versuchungen. Jeder Mensch der innerhalb des Systems, nicht gehorsam nach den Regeln des Systems agiert, jeder Lehrer der dem Schüler nicht gemäß den Anforderungen des Systems begegnet, wird vom System in Gestalt seiner Protagonisten delegitimiert und aufs schärfste bekämpft und verfolgt. Die Protagonisten des Systems transformieren ihre intrinsische Abhängigkeit vom System in Aggression gegenüber allen jenen, die das System und damit sie selber in Frage stellen.
Die Abspaltung
Der Lehrer und Schüler agieren anonym. Der Lehrer reduziert den Schüler zum Objekt seiner Forderungen, er reduziert den Schüler systematisch und permanent auf einen Teil seiner Wirklichkeit.
Der Schüler erfährt sich als auf sein Verhalten und seine Leistungen reduziert. Mit der Bewertung dieser Leistungen macht der Lehrer den Schüler zum Objekt, zum Objekt von Kriterien, die ihrerseits das gesellschaftliche System repräsentieren.
Der Schüler erfährt sich als Objekt von Urteilen hinsichtlich seiner Tauglichkeit für Systemanforderungen.
Der Schüler wird vom Lehrer auf seinen Gehorsam, die Früchte seines Gehorsams und seine Tauglichkeit reduziert! Das geschieht nicht primär offen formal, es geschieht faktisch und das entscheidet.
Schule ist der Ort der Verdinglichung des Menschen, der Ort an dem sich das System des Menschen bemächtigt und ihn als Objekt auf seine potentielle Nützlichkeit reduziert und danach sortiert.
Die damit zugewiesene Rolle ist die Rolle in einem anonymen System. Empathie erfordert persönliche Bekanntheit, Beziehung. In einem anonymen System ist Persönliche Beziehung ohne Bedeutung, sie existiert nicht. Persönliche Beziehung wird durch anonymisierten Gehorsam ersetzt, damit der Einzelne in der Anonymität anonymer Systeme systemkompatibel funktionieren kann.
Um das zu ermöglichen kommt es zu einem fundamentalen Abspaltungsprozess. Schule erzwingt diesen Abspaltungsprozess und dressiert den Menschen dazu. Der Heranwachsende erfährt, dass er auf bestimmte Anteile seiner selbst reduziert wird, er lernt, dass es gegenüber der anonymen Struktur der Gesellschaft, die zentralsten Elemente seiner Persönlichkeit nicht mehr gibt, dass sie dort schlicht keine Rolle spielen. Der Schüler hört in seiner System-Rolle auf als Person zu existieren.
Die zentralsten Teile seiner Persönlichkeit werden in seiner System-Rolle schlicht abgespalten. Der Schüler erfährt eine Beziehungskultur und entwickelt ein Selbstverständnis unter grundsätzlicher Ausklammerung aller Formen von Vertrauen, Persönlichkeit und Bindung, eine Beziehungskultur ohne Liebe, ohne Empathie und ohne Freiheit! Das ist der Kern der Abspaltung.
Der Schüler erlernt seine Wirklichkeit als auf bestimmte Teile seiner selbst reduziert. Er wird als Mensch auf seine Funktionstauglichkeit im arbeitsteiligen Kollektiv im Dienste des Systems reduziert und lernt es das Bild vom Menschen an sich auf auf eben diese Tauglichkeit zu beschränken.
Die Abspaltung der Empathie überlagert sich aber noch in einer weiteren, fundamentalen, neoliberal motivierten gesellschaftlichen Konstante, der Atomisierung der Gesellschaft in isolierte Einzelne. Isolierte Einzelne, die als Teile eines Ganzen dem Ganzen machtlos ausgeliefert sind.
Der Mensch hört aber auch auf Ausdruck der Freiheit gegenüber angeborenen Fesseln des Instinktes zu sein, denn er erwirbt eine neue Form von Instinkt. An die Stelle des angeborenen Instinktes tritt ein erworbener Instinkt, der seinen Geist beherrscht und ihn seiner Freiheit beraubt.
Systemstrukturen treten an die Stelle von Freiheit. Ein andressiertes Welt- und Menschenbild wird als erworbener Instinkt etabliert. Ein Instinkt aus Regeln, die weder hinterfragt, noch in Frage gestellt werden dürfen, ein Instinkt aus Dogmen und Tabus. Regeln werden nicht als Regeln und der neue Instinkt nicht als Instinkt erkannt, da sie zur neuen Wahrheit verabsolutiert werden. Anonymität kann nur Unmenschlichkeit erzeugen.
Der anonyme Menschen
Der Mensch erfährt in der Schule seine fundamentale Neudefinition, eine Beschneidung seiner selbst, er wurde auf Teile seines Menschseins reduziert. Freiheit und Empathie mit sich selber und mit anderen, wurden systematisch vernichtet. Eigene Gefühle für ein bestimmtes Verhalten, für sich selber und für andere Menschen wurden systematisch ausgemerzt, eben so lange, bis sie keine Rolle mehr spielen.
Vermittels der frühen Phase und der enormen Dauer dieses „Erziehungsprozesses“ gewinnen diese Erfahrungen prägenden Charakter. Der Heranwachsende erlernt welche Art von Beziehungskultur die Entscheidende in der Gesellschaft ist.
Werte sind keine private, keine persönliche Angelegenheit mehr, Werte werden vom System vorgegeben. Die Kompetenz der Bewertung ist abgegeben an das System.
Anstatt aus der Kontrolle und Beherrschung angeborener Triebe durch das Subjekt Mensch eigene Werte und den Antrieb zu Höherem zu entwickeln, bezieht das Objekt Mensch nun aus der Möglichkeit zur Absättigung seiner angeborenen Triebe den Drang zur Loyalität mit dem System und dem Gehorsam gegenüber seinem neu erworbenen Instinkt.
Das System, das sich den Einzelnen unterwirft, seiner Freiheit und elementarer Teile seiner Selbst beraubt, verpflichtet sich den Einzelnen zugleich auch. Das System erlaubt dem Einzelnen Zügellosigkeit der Absättigung seiner Triebe und liefert damit den Menschen diesen förmlich aus. Das System bietet dem Einzeknen mit den angebotenen Rollen auch Möglichkeiten an, im Rahmen des Systems Surrogate seiner Freiheit und seiner Selbstentfaltung zu erhalten.
Die zeitliche und räumliche Omnipräsenz des Systems reduziert das Selbstverständnis des Menschen endlich auf seine Rolle in diesem System. Eine Rolle die primär auf seine Funktionsfähigkeit in einem arbeitsteiligen, anonymen Kollektiv abzielt.
Reife besteht nicht mehr in der geistig kognitiven Emanzipation des Einzelnen gegenüber dem System sondern in der Erlangung von dogmatischer Systemkompatibilität des Einzelnen.
Dieser Prozess wiederholt sich von Generation zu Generation. Und sobald eine vorausgehende Generation diesen Prozess der Generierung ihrer eigenen Untertänigkeit gegenüber dem System durchlaufen hat, zwingt sie die nachfolgende Generation in das gleiche System einer autoritär hierarchisch erzwungenen Eingliederung durch Abspaltung.
In einem Akt unterbewussten Selbstschutzes wird das selbst erfahrene Leid der Abspaltung vom Negativen zum Positiven umgedeutet.
Schule hat deshalb eine ganz außerordentliche Bedeutung für die gesamte Struktur und Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft. So ist es sicher kein Zufall, wenn ein Land wie Deutschland, als kollektives System so leistungsfähig ist und über ein Schulsystem verfügt, das eben diese Reduzierung des Menschen auf Teile seiner Selbst so forciert.
Angesichts der explodierenden Leistungsfähigkeit gesellschaftlicher Systeme wohnt dieser systematischen Entmenschlichung des Menschen aber auch eine immer größer werdende Gefahr inne.
Die Abspaltung der Empathie für sich selbst und andere, die Reduzierung anderer und der eigenen Wirklichkeit auf ein Dasein als ein Objekt des Systems, ist die Grundlage zur Aushebelung der angeborenen Tötungshemmung des Menschen.
Die Abspaltung von Teilen der eigenen Wirklichkeit und somit die Abspaltung des eigenen Subjektseins bedeutet immer auch die Abspaltung desselben beim Gegenüber, sie ist die Voraussetzung des Tötens auf Befehl.
Die arbeitsteilige Trennung von Entscheiden und Ausführen ist die Grundlage des Krieges!! Je mehr nun also die Bedrohung durch den Krieg und die Gefahr seiner Waffen wächst, desto gefährlicher wird die in der Schule andressierte Abspaltung des Menschseins vom Menschen!
Abspaltung führt aber auch zu fehlender Kompetenz hinsichtlich dessen was abgespalten wird. Daraus erwächst nicht Frieden sondern Angst und Indoktrinierbarkeit.
Zur wachsenden Dominanz von Schule und System gesellt sich die immer stärker erodierende Bindung an die vorausgehende Generation, insbesondere an die Eltern. Es kommt zur Verschiebung des Verhältnisses zwischen Schule u Elternhaus zu Ungunsten der Empathie.
Wachsender Einfluss der Schule, schwindender Einfluss der Eltern, Spaltung der Generationen, Abwertung der und Bedrohung durch die Alten, Verfeindung der Geschlechter, fortschreitende Atomisierung der Gesellschaft, das alles führt nicht nur zu einem Mehr an Abspaltung, es führt auch zu einem Weniger an Empathie, Liebe und Freiheit, einem Weniger an Subjektsein und einem Weniger an Unabhängigkeit.
Der Ersatz von Freiheit durch Abhängigkeit führt geradewegs zum Verlust der Kritikfähigkeit. Es ersteht eine Gesellschaft aus Menschen, die sich immer gehorsamer, kritikloser und ergebener als Befürworter ihrer eigenen Unterdrückung präsentieren. Ohne individuelle Kritikfähigkeit ist auch Demokratie unmöglich.